2010 kam es zur Gründung des unabhängigen Film-und Theaterkollektivs „Richtung22“, dessen freiwillige Schauspieler jedes Jahr einen Film und ein Theaterstück veröffentlichen, jeweils zu einem brisanten Thema. Da die langsam ausbreitende Eurokrise viele Diskussionen über Europa aufwirft, bat sich die ideale Gelegenheit diese Problematik auch auf die Bühne zu bringen. So manch einer hat diese Debatten schon satt, setzt kaum noch Hoffnung in Europa oder hat den Überblick verloren, wer nun wie viel Einfluss hat. So eignet sich folgendes Streitthema perfekt, um dem Publikum Europa näher zu bringen und es zum kritischen Denken anzuregen.
Der Titel ihres diesjährigen Theaterstücks „Ode an die Freude“ ist auf die Europahymne zurückzuführen. Letztere gilt als Ausdruck der gemeinsamen Werte aller EU-Mitgliedsstaaten: Freiheit, Frieden, Solidarität, Zusammenhalt und Gleichberechtigung. Im Verlaufe der Vorführung wird dem Publikum jedoch die Ironie dieses Titels klar, denn gerade diese guten Vorsätze existieren fast nur theoretisch, Fortschritte gibt es wenige und somit besteht kein Grund zu überschwänglicher Freude.
Die erste Szene verläuft schleppend, der Zuschauer wird unruhig, will sich schon abwenden und seine Nervosität steigt von dem vielen Hantieren und Pfeifen des Ratspräsidenten sowie der Bewegungslosigkeit der übrigen Ratsmitglieder. Das Ambiente stimmt also, denn es vermittelt die Verhältnisse in Europa: es gibt kein wirkliches Vorwärtskommen, seltsame Prioritäten stehen im Vordergrund und die Kommunikation scheint schwierig.
Provokativ wollen die Schauspieler darauf aufmerksam machen, dass es kein Vorankommen gibt, wenn das System und die Einstellungen sich nicht ändern. Doch wie kann man den Grund dieser Stagnation und die Ohnmacht der Bürger besser hervorheben, als wenigstens einen andersdenkenden, motivierten Politiker in den Rat zu setzen. So muss der derzeitige Ratspräsident ersticken und eine tatkräftige Frau, von Frédérique Colling gespielt, übernimmt die Führung. Nun wird das Spiel hitzig, heftige Wortwechsel zwischen den Mitgliedstaaten Ungarn, Deutschland, Zypern und Großbritannien folgen. Die Auswahl dieser Länder ist wohl bedacht: Einerseits wird die Position der kleinen Staaten angesprochen und zudem auf die heikle Situation zwischen Zypern und der Türkei hingewiesen. Andrerseits betont England stets wie wichtig doch ihre transatlantischen Verbindungen seien, vor allem mit den USA. Deutschland wiederum pocht auf ihre wirtschaftliche Vormacht und Ungarn spricht sich lautstark gegen ein Einmischen in ihre nationale Politik aus. Die französischen Kollegen wurden bewusst beiseitegelassen, um den Schwerpunkt nicht auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich zu verlagern.
Neben dem Bühnenschauspiel, geht es auch hoch her im Wohnzimmer einer Bürgerin, die euphorisch all ihr Hab und Gut, ja gar ihre Zukunft auf Europa verwettet. Diese Zweiteilung des Geschehens ist taktisch clever angelegt, um die Distanz zwischen Brüssel und dem Volk zu verdeutlichen. Anne Klein, in der Rolle der Bürgerin, versucht mit aller Kraft das Publikum einzubringen und meint enthusiastisch: „ Jeder für sich ein bisschen.-Alle zusammen was Großes!“. Genau diese Botschaft wollen die Mitglieder des Kollektivs vermitteln: Die EU funktioniert in Punkto Wirtschaft, aber ansonsten will jede Nation ihre Identität und Stärken in den verschiedenen Bereichen bewahren. Genau hier sind alle Bürger gefordert: Um sich besser mit den Vertretern des EU-Rats identifizieren zu können, schlagen die Schauspieler zum Beispiel eine direkte Wahl des europäischen Kommissionspräsidenten vor.
Es lohnt sich auf jeden Fall, sich „Ode an die Freude“ anzuschauen, denn das scheinbar „trockene“ Thema wird durch Mimik, Gestik und Verlauf des Stücks äußerst unterhaltsam dargeboten und mit ausreichend Ironie bestückt. Die Vorstellung ist ein Beweis dafür, dass auch Jugendliche sich bewusst mit Europapolitik auseinandersetzen. Eine letzte Gelegenheit sich davon zu überzeugen, ergibt sich am Montag, dem 24. September 2012 um 20 Uhr im TNL.
(Fotos: Michelle Hollman & Frederik Schlechter)