"An meinem besten Anzug reibt er seine Schnauze - aber ich sage keinen Ton. Weiss Gott! Ich kann mir neue Kleidung kaufen, aber keinen Freund wie ihn."
(W. Daayton Wedegefarth)
WALU UND JOCKO.
So hießen die Freunde meiner frühesten Kindheit. In angsterfüllten Nächten vertrieben die babygroßen Spieltiere Hexen und Kobolde aus dem Schlafzimmer.
Zwischen ihren Plüschkörpern eingemottet, konnte ich beruhigt weiterschlafen. Tagsüber störte es mich nicht weiter, dass Walus und Jockos Augen vollkommen reglos waren.
Diese Kindheitserinnerungen blitzten in mir auf, als ich Pipo zum ersten Mal hinter Glas erblickte.Gegen meinen Willen hatten die Kinder mich wieder einmal in eine Welpenhandlung geschubst.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein Mini -Walu mit Knopfaugen, Schlappohren und Babyschnauze! Mickriger als mein Plüschhund aus Kinderzeiten , dafür aber um einiges
quirliger! Ein lebendig gewordenes Pfund Schwarzbrot auf vier dünnen O-Beinen! Stolz wie Oskar, mit der kleinen, nach außen gewölbten Brust! Und womit vergnügte sich der Zwergpinscher? An der Rute seiner verschlafenen Schwester zerrte er ...
Die Kinder drängten und bettelten ...
Eine knappe Stunde später verließen wir die Tierhandlung - mit einem schlotternden Pelzhäufchen Elend an der viel zu langen Leine.
Die Tragweite des Kaufs wurde mir erst in der Nacht voll bewusst:
Pipo quiekte erbärmlich in seinem provisorisch hergerichteten Nachtlager. An Schlaf war nicht zu denken. Einmal Mutter, immer Mutter! Seufzend stand ich auf, quartierte den Winzling samt Holzkiste neben meinem Bett ein, deckte ihn mit einer Wolljacke zu und kraulte ihm die Brust.
Pipos erste Aktion bestand darin, sämtliche Knöpfe meiner Jacke zu bekriegen.
Erste Aktion, erste Reaktion, erster Hundeerziehungsfehler!
Statt ihn auszuschimpfen und in seiner Zerstörungslust zu stoppen, schüttelte ich mich vor Lachen. Mein Entzücken über sein anarchisches Treiben sollte Pipo nachhaltig prägen. Berge von Knöpfen, Dutzende von Reißverschlüssen, Wäsche, Schuhe: Mit diebischem Eifer zerriss, zerstückelte, zerkaute und versteckte das Vieh alles, was nach mir roch. Sicher: Manchmal erboste ich mich auch wegen der Verschwendung! Aber meistens pulsierte das Leben so sorglos, so ungehemmt in diesem frechen Zwerg, dass im Nu alle finanziellen Bedenken ausgelöscht waren. Wertvoller als ein paar Euro war mir das Geschenk seiner Lebensfreude.
Zugegeben: Am Anfang benahm sich Pipo total daneben ...
Aber hinter seinen Verhaltensstörungen witterte ich den Rebellen, der in mir selber steckte. Ich spürte es deutlich: Diesen Hund zog die Freiheit magisch an. Das Rennen
durch Wiesen, die eleganten Gleitflüge mit vorgestreckten Pfoten über Baumstämme und Bäche, das selbstsichere Traben durch den Wald, die Rute sichelförmig nach oben gebogen, die Brust angeberisch gewölbt. Nur fünf Kilo schwer und 40 Zentimeter hoch, aber stolz wie zwei Pfaue und siegesgewiss wie zehn Könige. Beneidenswert energisch das Buddeln von metertiefen Löchern, so dass Erde und Mäuse ihm um die
Ohren flogen.
Wie der kleine Raubjäger das Hundegeschirr hasste!
Lieber würgte und hustete er, lieber schnitt er sich selbst die Luft ab, als gesittet und angepasst bei Fuß zu gehen. So offensichtlich verachtete er jedes Gefühl von Enge, dass ich mich auf den gemeinsamen Spaziergängen gegen die Leineund damit gegen meine Familie verschwor. Wenn keiner hinsah, bückte ich mich, löste die Halsfessel und schenkte dem Zwerg die ersehnte Freiheit. Jedes Mal büchste er aus, jedes Mal ließ
er mich im Stich. Ausgelassen stob er über Feld und Weide davon, der Inbegriff ungezähmter Wildnatur. Während ich die wüsten Beschimpfungen meiner Kinder gelassen hinnahm, rannte mein viehisches Ebenbild Kühen und Pferden nach,
bellte sie in seinem Größenwahn furchtlos an und verschlang zwischendurch hastig ganze Dungbrocken.
Die Szene ergötzte mich jedes Mal: Die Familie fluchte, die Kühe glotzten blöd und muhten, die Pferde galoppierten in alle Himmelsrichtungen. Und inmitten der Riesenviecher, unser durchgeknallter Minizwerg! Mit fliegenden Ohren fetzte er herum, die Sonne schien vom tiefblauen Himmel, sein schwarzes Fell glänzte wie Seide und ich lachte mich krumm und glücklich. Zu schön, zu perfekt war das Chaos für dieses Leben, wo alles so streng geregelt abzulaufen hat, wo alles Zwang und Ernst bedeutet.
Das Einfangen des Widerspenstigen war jedes Mal eine langwierige Arbeit. Haken wie ein Kaninchen schlug der Teufel. Letzten Endes aber kam er bäuchlings angehechelt und ließ sich festnehmen.
Erhitzt strichen die Kinder sich die Haare glatt.
Gestärkt war das Selbstvertrauen, gelockert die Einstellung zum Leben, vergessen Prüfungsstress ·und Pubertät.
In unzähligen Situationen noch sollte Pipo uns alle, tagaus tagein, entkrampfen, beleben. Unmerklich war das Tier unser Familientreffpunkt geworden, unsere Mitte. Auf seinem Fell
begegneten und berührten sich unsere Hände, um ihn herum wurde diskutiert, gelacht und gestritten. Pipo half, das Grau des Alltags in Farbe zu sehen.
Nach dem Toben war Schmusen angesagt.
Mein Geschenk der Freiheit entlohnte Pipo mit Anhänglichkeit. Allabendlich wuselte er unstet auf meinem Schoß herum, robbte näher und näher, bis seine Schnauze endlich meine Achselhöhle fand.Tagsüber dagegen bedurfte es vieler Listen, den scheuen
Steppenwolf, dem seine Unabhängigkeit alles zu bedeuten schien, überhaupt streicheln zu können. Je nach Zeit und Laune trickste ich ihn auf gemeinste Weise aus, indem ich
mich auf den Fußboden setzte und die Desinteressierte mimte. Neugierig, aber mit sicherem Abstand, umkreiste er meine Person, trottete misstrauisch näher, zuckte wieder zurück. Gleichgültig schaute ich fort. Magisch zog ihn meine Nichtbeachtung an. Standhaft hielt ich mich zurück. Da war es um ihn geschehen. Er holte zum Sprung aus, stellte die Vorderpfoten auf meine Schultern und sabberte mir einen Kuss ins Gesicht.
Triumphierend stürzte ich mich dann auf mein Opfer. Der Wolf war gefangen, wurde gedrückt, liebkost, was das Zeug hielt. Natürlich ging meinem stolzen Zwerg diese Einengung gegen den Strich. Energisch paddelte er den kleinen Leib frei und rettete sich aus meinen Fängen unter den Küchentisch.
Meine Familie fand Pipos Pirouetten weniger lustig.
Sie schmunzelte nicht, wenn er Gärtner und Postboten vehement anbellte. Auch entrüsteten sich vor allem die Kinder, dass Pipo beim Spaziergang jedem Artgenossen die Schnauze direkt ins Hinterteil steckte. Wenn er seinen Kollegen dann selbstverständlich anpinkeln wollte, rissen sie ihn brutal zurück.
All diese urkomischen Situationen ... ich konnte nicht anders, ich lachte mich schief.
Die anderen leider nicht!
Entschlossen meldete mein Mann Pipo in der Hundeschule an, um ihm Manieren beizubringen. Ich war gegen die Dressur.
Nie sollte ich meine Rasselbande dorthin begleiten.
Schadenfroh hörte ich zu, wenn sie mir nach jedem erzieherischen Anlauf beschämt und betrübt die Bilder des absoluten Desasters beschrieben. Pipo pfiff auf die erfahrene Lehrerin mitsamt ihren Hundebenimmregeln. Nichts schien er zu kapieren, alles war ihm zu blöd! Weder erkannte er den Sinn des Sitz! Platz! und Bleib! - noch ging er bei Fuß oder ließ sich durch irgendwelche Leckerlis zu Kadavergehorsam verführen.
Nein! Viel eher stellte er, der sture Rebell, die gesamte Schulordnung auf den Kopf. In Schnelle machte sich Pipo bei der Lehrerin unbeliebt. Meine Familie war blamiert, dem Zwerg wurde der Krieg angekündigt: Ab mit der "Testosteron-Bombe"
zur Entmannung! Zur Verstümmelung!
Natürlich!
Zuerst die Halsleine, dann die Kastration! Der "normale" Wahnsinn!
Ich war außer mir, als mein Mann mich vor vollendete Tatsachen stellte. Pipo sollte schon bald operiert werden. So eine sexuelle Dynamik gehöre gebändigt!
Ich schämte mich, als er aus der Narkose heimkam. Sein müder Blick war voller Vertrauen und ohne jeden Vorwurf ...
... Einmal nur sollte Pipo schmollen, richtig zäh und kalt schmollen.
Wir hatten seit längerer Zeit einen Urlaub gebucht und Großvater konnte Pipo krankheitshalber nicht versorgen. Was blieb uns anderes übrig? Der Kleine musste in eine Hundepension. Danach bestrafte der Trotzkopf uns zwei lange Wochen mit
seiner depressiven Gleichgültigkeit. Kein Begrüßungstanz, kein verrücktes Schwanzwedeln, keine Lüftsprünge, kaum Freude beim alltäglichen Gassigang, keine Schlabberküsse. Nur Müdigkeit und gelangweiltes, ausgedehntes Gähnen.
Zu viert bemühten wir uns um ihn ...
Von einem Tag auf den anderen aber war die Trotzperiode vorbei.
Wir atmeten auf!
Wir hatten unseren Hund zurückl
Im Nachhinein erwies sich die Kastration als richtige Entscheidung. Nur ungern gebe ich es zu, aber Pipo schien danach tatsächlich gelöster. Seinem sexualhormonellen Gefängnis entronnen, entwickelte er sich zu einem disziplinierten Sportler, der ohne Leine mit allergrößter Ausdauer neben Roller und Fahrrad lief. Ein ruderndes kleines Muskelpaket. Fröhlich verhalf er meiner Familie zur ärztlich empfohlenen Tagesdosis
an Bewegung.
Lange Rade, kurzer Sinn:
Sauberkeitswahn, Putzfimmel, Konsumrausch, Kleider und Schuhe?
Lebensirrtümer, im Vergleich zu Pipos Lebendigkeit und Kameradschaft.
Vergeudete Zeit.
Un-Sinn.
Scheu und quirlig ist der Zwergpinscher. Wahrlich kein Hund, um mit großen Hunden pissen zu wollen. Kompensation für Minderwertigkeitsgefühle? Nein! Ein Statussymbol? Auch nicht! Kein Hund zum Angeben! Und wegen seiner fledermausartigen Stehohren und der viel zu langen Schnauze taugt er auch als Modeaccessoire nichts! Wie oft erregte unsere "Ratte" in der Öffentlichkeit Verwunderung, Geringschätzung, Sticheleien?
Und immer noch zerkaut er jeden Kugelschreiber, jeden Reißverschluss. Springt vom Stuhl auf den Tisch, verschlingt dort einen Kuchen oder ein ungebratenes Steak. Auch nach seiner Kastration ist er größenwahnsinnig geblieben und pinkelt furchtlos große Hunde an. Auf Katzen und Züge reagiert er hysterisch. Er hasst Regen und Schnee. Vor dem Staubsauger verkriecht er sich mit eingeklemmtem Schwanz unter den Küchentisch.
Eigensinnig kratzt er hinter dem Fernsehschrank, wenn ein Filmhund bellt...
In Trauersituationen dagegen verhält er sich vorbildlich. Für jeden Schmerz hat er eine Antenne. Ehrlicher als alle Worte ist sein ernster Blick, behutsam die Schnauze. Treu war er immer. Treu wartet er - immer noch.
Gehen wir unseren Pflichten nach und verlassen ihn, trabt er zu seinem Körbchen , rollt sich darin zusammen und wartet. Stoisch. Stundenlang. Wenn wir wiederkommen, ist er aus dem Häuschen ...
"Die wahre Freude ist die Freude am anderen." (A. de Saint-Exupéry)
... Deshalb sage ich nur noch eins:
Dieser Hund Ist fähig, höchste Lebensansprüche zu erfüllen!
Und warne an dieser Stelle alle Spötter: Wer es zukünftig wagen sollte, unseren komischen, unmanierlichen aber genialen Flohsack zu belächeln, zu demütigen oder zu bekritteln, der wird eine brüllende Königin der Löwen kennen lernen ...
... nämlich mich.
Das Frauchen.
Chantal Lorang
(veröffentlicht in: Télécran 22/2011)